Sei still, und wisse, dass ich Gott bin

Psalm 46,11

Eine besondere Form der christlichen Meditation

Du hast zufällig vom Zentrierenden Gebet gehört? Jemand hat Dir davon erzählt? Du hast davon gelesen? Du möchtest mehr dazu wissen und es selbst ausprobieren? Der folgende Text kann Dir dabei helfen.

Als erste Orientierung ein kurzer Blick darauf, wohin dich das Zentrierende Gebet nicht führen wird. Wenn Du dorthin willst, hast Du noch Gelegenheit, einen anderen Weg einzuschlagen. Es geht nicht darum, einen Zustand der Glückseligkeit, des Friedens oder der Ruhe zu erreichen. Es geht nicht darum, messerscharfe Konzentration zu entwickeln, Stress abzubauen oder dein emotionales oder körperliches Wohlbefinden zu stärken (obwohl das tatsächlich häufige Nebeneffekte sind).

Den Gedanken eine Pause gönnen

Beim Zentrierendem Gebet lernst Du, die Aufmerksamkeit von den Gedanken abzuziehen, die Dein Verstand scheinbar unaufhörlich produziert, um in der feinen, offenen Aufmerksamkeit für das Göttliche zu ruhen. Dabei verstehen wir unter "Gedanken" alles, was die Aufmerksamkeit bindet: Ideen, Gefühle, Erinnerungen, sogar ein Jucken am Kopf. Sobald etwas Deine Aufmerksamkeit beansprucht, ist es ein Gedanke. Wie gehst Du damit um? Indem Du einfach den Gedanken gehen lässt und Deine Aufmerksamkeit behutsam aus der Umklammerung des Gedankens löst. Wenn dann unweigerlich der nächste Gedanke auftaucht, darf er das. Lass auch ihn einfach los.

Immer wieder zu Gott zurückkehren

Heißt das also, dass das Meditieren beim Zentrierenden Gebet einfach darin besteht, einen Gedanken nach dem anderen loszulassen? Ja! Das wird deine Erfahrung zu Beginn der Reise sein. Eine legendäre Geschichte aus den Anfängen des Zentrierenden Gebets erzählt von einer Ordensschwester, die sich nach ihrer ersten zwanzigminütigen Meditation  verzweifelt an ihren Lehrer, Pater Thomas Keating, wandte: "Ich tauge überhaupt nicht für das Zentrierende Gebet! Ich kann mich nicht konzentrieren! In diesen zwanzig Minuten sind mir mindestens zehntausend Gedanken gekommen!" "Das ist doch schön", antwortete Keating, "zehntausend Gelegenheiten, zu Gott zurückzukehren!" Das Zentrierende Gebet lässt sich in seiner Essenz als beständige Rückkehr beschreiben. Du beginnst mit einem eingeengten Bewusstsein und schreitest fort in einen offenen, diffusen, unscharfen Zustand der Weite, in dem Du im Göttlichen gegenwärtig bist. Dieser Übergang ist, wie wenn Du aus dem Hellen in die Dunkelheit kommst. Deine Tageslicht-Sehzellen lassen Dich in Farbe, scharf und fokussiert sehen. Wenn die Dämmerungs- und Nacht-Sehzellen übernehmen, sehen diese diffuser - die großen Muster.

Zentrierendes Gebet ist verblüffend einfach - zehntausend Gelegenheiten, zu Gott zurückzukehren. Du brauchst dich nicht darauf zu konzentrieren, Gedanken wegzuschieben oder sie erst gar nicht aufsteigen zu lassen. Andere Meditationsformen zielen auf einen dauerhaften Zustand der Stille und Offenheit ab. Das Zentrierendes Gebet kommt sozusagen durch die Hintertür, genau in dem Moment, in dem Du merkst, dass Du mit einem Gedanken beschäftigt bist und bereit bist, diesen Gedanken loszulassen. Zentrierendes Gebet "wirkt" durch diese Deine Bereitschaft und durch eine fast unmerkliche Verschiebung im Energiefeld Deiner Aufmerksamkeit, wenn Du sie vom Gedanken abziehst. Jedesmal, wenn Du einen Gedanken loslässt, prägt sich das als Muster in Dein Sein ein, bis es schlussendlich zu Deiner Grundeinstellung in allen Lebenssituationen wird.

Zentrierendes Gebet ist eine Win-Win-Situation. Wenn Du Dich zum Meditieren hinsetzst und sofort in einen Zustand der Stille verfällst (was nicht sehr wahrscheinlich ist) - ausgezeichnet! Denn dann erlebst Du tiefe Ruhe. Wenn - was viel häufiger der Fall ist - sich jede der zwanzig Minuten wie zehn anfühlt und Du von Gedanken überschwemmt wirst, Du aber dein Bestes tust, um sie loszulassen - ausgezeichnet! Du hast die "Muskeln" des Loslassens und der Zustimmung trainiert. Auf die Absicht kommt es an!

Ein Kernsatz Thomas Keatings zum Zentrierenden Gebet ist, es bedürfe nicht der Konzentration, sondern der Intention. Anders als bei anderen Meditationsformen konzentrierst Du dich beim Zentrierenden Gebet nicht auf ein Objekt, um der Gedanken Herr zu werden. Du wiederholst kein Mantra, folgst nicht Deinem Atem, wie er ein- und ausströmt, und beobachtest auch Deine Gedanken nicht. Stattdessen löst Du Deine Aufmerksamkeit von allem, worauf sie sich richtet - immer und immer wieder in einer "nackten, auf Gott gerichteten Absicht", wie es der anonyme Autor der "Wolke des Nichtwissens" beschreibt.

Die Absicht zählt

"Was soll denn diese nackte Absicht sein?" wirst Du fragen. Das ist nicht leicht in Worte zu fassen. Die Absicht ist nicht scharf fokussiert, sondern diffus wie das Sehen in Dunkelheit. Es ist die Absicht, ganz und gar  offen zu sein für Gott - bis hinunter in den tiefsten Grund deines Seins. Also tiefer als deine Gefühle, tiefer als Deine Gedanken und Dein Verlangen, tiefer als das, was Du als Dein Selbst erlebst. So tief, dass Du es weder mit deinen Sinnesorganen noch mit deinem Verstand wahrnehmen kannst. Was dort vor sich geht, wie Gott dort wirkt, bleibt ein Geheimnis.

Mit der Absicht, ganz und gar für Gott offen und da zu sein, beginnst Du dein Zentrierendes Gebet. Sobald Du merkst, dass Du Dich auf etwas konzentrierst, also einen Gedanken hast, lässt Du ihn los. Behutsam und ganz sanft. Denn wenn Du dich darüber ärgerst, dass Du dich schon wieder an einen Gedanken geklammert hast, hast Du es gleich mit dem nächsten Gedanken zu tun! Du bist nicht verantwortlich für Gedanken, die Du die längste Zeit gar nicht bemerkst - was für eine Erleichterung! Du brauchst Dich auch nicht mit der Frage zu quälen, wer oder was überhaupt bemerkt, dass Du einen Gedanken hast. Du lässt einfach los. Mehr brauchst Du nicht zu "tun", denn damit hast Du schon mehr als genug zu "tun". Durch das Loslassen kehrst Du zurück in Deine nackte, diffuse Absicht, ganz und gar für Gott offen und da zu sein. Und - sofort ist der nächste Gedanke da. Deine formlose Offenheit für Gott hat vielleicht nur eine Millisekunde gedauert. Kein Problem, lass auch diesen Gedanken wieder los. Der Kern der "Methode" ist das Loslassen der Gedanken, nicht das Unterdrücken.

Praktische Hinweise

Unterstützt deine Absicht: das Gebetswort

Ein kurzes Wort unterstützt Dich dabei, Gedanken loszulassen. Dieses Wort ist ein Platzhalter für Deine Absicht, ganz und gar offen für Gott zu sein. Wenn Du merkst, dass Du einen Gedanken festhältst, bringst Du dieses Wort ein, hauchzart, fast unmerklich. Du sprichst es nicht laut aus. Wie wenn Du mit dem Smartphone ein Foto machst und zum Scharfstellen leicht auf den Bildschirm tippst, kehrst Du mit dem Wort zu Deiner Absicht zurück. Ein anderes Bild, das Dir helfen kann, das Wirken des Wortes zu verstehen, ist das sanfte Hinlegen eines Wattebauschs. Du verwendest das Wort nur, wenn Du bemerkst, dass Du Dich in einen Gedanken verwickelt hast. Du wiederholst es also nicht regelmäßig, sondern kehrst damit zu Deiner Absicht zurück. Das unterscheidet das Wort von einem Mantra in anderen Meditationsformen, wo es regelmäßig wiederholt als Kristallisationspunkt Deiner Aufmerksamkeit dient. Das Wort dient im Zentrierenden Gebet dazu, sich von der Fokussierung zu lösen, um offen zu sein für Gott. Dieser Unterschied erschließt sich am Anfang vielleicht nicht so leicht, ist aber zentral. Denn sogar bei deinen ersten Versuchen mit dem Zentrierenden Gebet wird es ganz kurze Lücken geben - Millisekunden, in denen weder Gedanken noch das Wort da sind. Genau in diesen Leerstellen im Gedankenstrom bewirkt das Zentrierende Gebet seine Transformation.

Du wählst das Wort selbst aus. Was hilft Dir dabei? Lass Dich leiten vom Zweck des Wortes. Es steht bloß als Platzhalter für Deine Absicht, ganz und gar für Gott offen zu sein. Nicht mehr. Deswegen soll es ganz einfach und kurz sein. Auf keinen Fall soll es starke Emotionen oder Assoziationen, Erinnerungen etc. in dir auslösen oder Dich zum Nachdenken bringen - das wären ja wieder Gedanken! Der Autor der "Wolke des Nichtwissens" empfiehlt ein ganz kurzes Wort zu wählen, möglichst mit nur einer Silbe. Auch zwei (oder mehr) Silben sind ok. Wichtig ist, dass es nur ein Platzhalter ist und nicht der Auslöser für weitere Gedanken.

Beispiele sind "Gott", "Ja", "Friede", "Du", "still", "Abba". Manche Leute wählen ein Wort mit religiösem Kontext, andere ein Wort, das den Zustand der Offenheit ausdrückt. Mach Dir keinen Stress bei der Wahl des Wortes! Du kannst es später noch wechseln, wenn es für dich noch nicht passt. Aber selbstverständlich nicht während des Gebets, denn das wären ja schon wieder Gedanken! Mit der Zeit prägt sich dieses Wort tief in dein Unbewusstsein ein, in den Ort, wo es seine wirkliche Arbeit tut.

Noch eine kleine Anmerkung: Thomas Keating und die englischsprachige Literatur zum Zentrierenden Gebet nennen dieses Wort "sacred word", also "heiliges Wort". Wir haben letztens von einem unserer Gruppenmitglieder in den USA gehört, dass Keating einmal sagte, er ziehe den Ausdruck "Gebetswort" vor. Wir teilen diese Präferenz.

Wie sitze ich während des Zentrierenden Gebets?

Alles, was während der Meditation passiert, geschieht in und durch Deinen Körper. Behandle ihn also mit Respekt und Wü̈rde. Sei entspannt und wach gleichzeitig. Dein Körper soll dem Zentrierenden Gebet nicht dadurch im Weg stehen, dass er Deine Aufmerksamkeit auf sich lenkt (Gedanken!) oder dass Du einschläfst.

Wähle eine Position, die zu Deinem Körper mit seinen physiologischen Fähigkeiten und Grenzen passt. Viele Menschen sitzen zum Beispiel gerne auf einem Stuhl. Halte dabei den Rücken aufrecht und den Kopf auf Deinen Schultern ausbalanciert. Überkreuze Deine Beine nicht und halte die Knie im rechten Winkel, beide Füße nebeneinander auf dem Boden. Falls Du ein Blasinstrument spielst oder in einem Chor singst - genau die dafür nowendige Haltung passt auch gut fürs Zentrierende Gebet. Die Hände liegen auf den Knien, Innenflächen nach oben oder unten - was Dir lieber ist.

Falls Du Rückenprobleme hast wie ich, kannst Du dich auch flach auf den Rücken (auf eine Unterlage) legen. Arme ca. 30 bis 45 Grad vom Körper ausgestreckt, Beine parallel dazu ebenfalls in einem leichten V, Muskeln entspannt. Als ich nach einer Rückenverletzung darauf ausweichen musste, hatte ich Bedenken, dass ich in dieser Position einschlafen würde. Das traf aber nicht zu.

Wenn Du entspannt und wach sitzt oder liegst, schließe die Augen. Meist ist dann noch dein Kiefer verspannt. Entspanne dich, indem Du beim Ausatmen zuerst die Lippen geschlossen hast und dadurch die Wangen ein bisschen aufbläst. Anschließend öffnest Du die Lippen, um die restliche Luft auszuatmen. Einfacher gesagt: mache ein "Phhh".

Falls es irgendwo zwickt, juckt oder schmerzt, richtet sich Deine Aufmerksamkeit darauf und wird damit zum Gedanken, den Du wieder loslassen kannst. Wenn Du verkühlt bist und husten musst, ist es besser, das gleich hinter Dich zu bringen, als die ganze Zeit damit zu kämpfen. Manchmal entstehen auch Spannungen und Schmerzen im Körper, die ein Anzeichen dafür sein können, dass das Zentrierende Gebet wirkt und sich innere Spannungen lösen. Sie können aber auch anzeigen, dass Du nicht entspannt sitzt. In diesem Fall ist es besser, die Position leicht zu verändern, als krampfhaft zu versuchen, ruhig sitzen zu bleiben.

Zentrierendes Gebet: in die Praxis einsteigen

Vorbereitung

Finde einen Ort, wo Du für die Zeit des Zentrierenden Gebets nicht gestört wirst. Um zu wissen, wann die Meditationszeit vorbei ist, gibt es mehrere Möglichkeiten. Die bequemste sind Smartphone-Apps, z. B. "Centering Prayer" oder "Insight Timer", um nur zwei zu nennen. Probiere diese vorher aus und finde die Einstellungen und Klänge, die Dir zusagen. Ein einfacher Wecker oder Timer auf der Digitaluhr tut es natürlich auch, solange Du wegen der Lautstärke nicht vor Schreck vom Stuhl fällst. Ich wohne in der Nähe einer Kirche, die alle Viertelstunden läutet - eine weitere Möglichkeit. Je nach Vorliebe und körperlicher Gelenkigkeit Stuhl, Gebetsschemel oder Matte vorbereiten. Smartphone auf "nicht stören" bzw. stumm schalten.

Dich einlassen aufs Loslassen

1. Timer, App o.ä. starten. Beim ersten Mal zehn Minuten einstellen. Das reicht, um ins Zentrierende Gebet einzutauchen und die Schritte auszuprobieren. Es ist aber auch kurz genug, damit Du keine Krämpfe bekommst, falls noch irgendetwas mit der Sitzgelegenheit, der Sitzposition oder der sonstigen Umgebung nicht passt. Wenn alles passt, beim nächsten Mal 15 Minuten verweilen und dann auf 20 Minuten verlängern.

2. Setze (bzw. lege) Dich, schließe die Augen, entspanne deinen Körper und den Unterkiefer.

3. Das Zentrierende Gebet beginnt, wenn Du das Gebetswort einbringst, ohne zu sprechen, behutsam und nur jetzt zu Beginn stetig - als Zeichen deiner Absicht, ganz und gar da zu sein, und als Zeichen deiner Zustimmung zu Gottes Gegenwart und seinem Wirken während der Meditationszeit.

4. Das Gebetswort verschwindet ganz von selbst und ohne dass dein Bewusstsein es wahrnimmt (so ähnlich wie beim Einschlafen). Du musst dazu nichts tun. Deine ursprüngliche Absicht, ganz und gar in Gottes Gegenwart zu sein, genügt.

5. Sobald ein Gedanke auftaucht, bringe wieder ganz behutsam Dein Gebetswort ein und kehre damit zu Deiner diffusen Offenheit zurück. Dann taucht der nächste Gedanke auf, Du bringst wieder dein Gebetswort ein - zehntausend Gelegenheiten, zu Gott zurückzukehren.

6. Wenn das Signal ertönt, dass die Zeit um ist, lasse die Augen zuerst noch geschlossen, bringe aber dein Gebetswort nicht mehr ein. Nach etwa einer Minute öffne behutsam die Augen und komme langsam in Deine Umgebung zurück, noch diffus, ohne die übliche pointierte Aufmerksamkeit deines Verstandes. Durch dieses langsame Zurückkommen nimmst Du etwas von der inneren Weite, die Du berührt hast, in den Alltag mit.

Danach

Vor allem wirst Du dich an die vielen Gedanken erinnern können, die in Dir aufgestiegen sind. Sie schwimmen gewissermaßen an der Oberfläche deines Seins. Dazwischen, wenn auch nur ganz kurz, gab es Phasen tiefer Ruhe in der Tiefe deines Seins. Du kannst sie nicht direkt wahrnehmen, denn sobald Du darüber nachdenkst, verschwinden sie, da Du dann wieder an der Oberfläche bist. Zurück bleibt vielleicht (aber normalerweise noch nicht bei den ersten Malen) eine vage Erinnerung, in der Du Dich erfrischt fühlst oder das Gefühl hast, unfassbarer Intimität und Zärtlichkeit nahe gewesen zu sein. Das ist eine Vorschau darauf, was "passiert", wenn Du oft im Zentrierenden Gebet warst. Dann ist Dein Herz getränkt vom Wissen, dass Du an diese innere Weite dadurch kommst, dass Du loslässt, woran Du Dich klammerst. Du wirst merken, dass das nicht mehr ein Ort ist, an den Du hingehst, sondern ein Ort, von dem Du kommst.

Halte Dich bei den nächsten Malen an die eingestellte Zeit von 20 (bis 30) Minuten. Damit kommst Du nicht in Versuchung, die Zeit nach Deinem subjektiven Gefühl zu verkürzen (z.B. "heute komme ich gar nicht zur Ruhe; da macht es keinen Sinn") oder zu verlängern ("heute geht es ganz leicht; da hänge ich noch was dran").

Wo, wann, wie oft und wie lange bei den nächsten Malen?

Für viele ist es schwierig, einen Ort zu finden, an dem sie 20 - 30 Minuten lang ungestört sein können. Überlege Dir das gut und probiere verschiedene Möglichkeiten aus, z.B. früher als der Rest Deiner Familie aufstehen; Mitbewohner (oder Arbeitskollegen) informieren, dass Du die nächsten 20 bis 30 Minuten nicht gestört werden möchtest; eine Kirche . . . Ohne einen solchen Ort fällt es Dir schwer, regelmäßig zu meditieren. Später, viel später, kannst Du an fast allen Orten meditieren, wie z.B. beim Warten auf den Abflug Deines Flugzeugs oder Zuges. Jeden Tag einmal 20 Minuten. Wenn es Dir von Anfang an gelingt, in diese Regelmäßigkeit zu kommen, wirst Du am Zentrierendem Gebet dran bleiben. Andernfalls wird es viel schwieriger, nicht der Versuchung nachzugeben und es wieder bleiben zu lassen.

Nach einiger Zeit (Monaten) wirst Du merken, dass sich in Dir ein Sehnen nach dem Zentrierendem Gebet entwickelt hat und Dir etwas fehlt, wenn Du nicht dazu kommst. 20 Minuten brauchst Du, damit Du richtig "eintauchen" kannst. Du solltest diese Zeit also normalerweise nicht unterschreiten. Wenn es Dir leicht fällt, kannst Du auch 25 oder 30 Minuten meditieren. Länger wird nicht empfohlen. Vielen fällt die Morgenzeit nach dem Aufstehen leichter als am Abend vor dem Schlafengehen. Richte Dich da nach Deinem Rhythmus und Deinen zeitlichen Möglichkeiten. Später wird empfohlen, zweimal pro Tag zu meditieren, wenn das für Dich zeitlich machbar ist. Das ist dann wie mit Medizin, die man zweimal pro Tag nimmt, damit sich ihre Wirkstoffe auf den ganzen Tag verteilen.

Wie gehe ich mit Gedanken während des Zentrierendem Gebets um?

Vorneweg eine Erinnerung: Gedanken sind kein Hindernis beim  Zentrierenden Gebet, sondern eine Gelegenheit. Jeder neue Gedanken gibt Dir die Gelegenheit, Deinen Loslass-"Muskel" zu trainieren. Gegen Gedanken anzukämpfen ist nutz- und sinnlos. Gedanken loslassen - darin steckt Kraft, und dort beginnt der Weg in die Tiefe zu Deinem Innersten.

Von Thomas Keating stammt folgende Bildszene, durch die Du den Umgang mit Gedanken verstehen kannst. Da ist ein Fluss - Dein Bewusstsein als kontinuierlich fließender Strom. Darauf schwimmen Boote - Deine Gedanken. Das können kleine Kajaks sein - wenn Du Dich fragst, ob Du die Herdplatte vor dem Meditieren ausgeschaltet hast oder Dich erinnerst, dass Du einem Kollegen noch eine E-Mail schreiben musst. Das können auch flinke Kanonenboote sein - starke Gefühle, wenn Du nochmals den Streit mit Deiner Frau durchlebst. Oder halbgesunkene Boote, die der Fluss noch vor sich hertreibt - alte schmerzende Erinnerungen.

Du sitzt am Ufer des Flusses. Solange die Boote vorbeifahren, passt alles. Du musst nichts tun, um ihr Auftauchen und Weiterfahren zu verhindern. Oft interessiert Dich aber ein Boot und Du schwimmst zu ihm hin und steigst ein - das sind die Gedanken, Fokussierung Deiner Aufmerksamkeit. Sobald Du merkst, dass Du an Bord gegangen bist, geh wieder von Bord. Der elegante Sprung ins Wasser zum Ufer hin - das ist Dein Gebetswort. (In Keatings Szene bist Du ein Taucher am Grund des Flusses, der zu den Booten auftaucht. Vielleicht sagt Dir das Bild noch besser zu. Für mich ist es zu unbehaglich und klaustrophobisch).

Beim Zentrierendem Gebet ist alles, worauf sich Deine Aufmerksamkeit stürzt, ein "Gedanke". Also z.B. auch ein Gefühl, ein Jucken, Trost, eine Vision, Erinnerung, Erinnerung an alte Verletzungen. . . Was machst Du also, wenn während des zentrierenden Gebets Jesus über den Fluss direkt auf Dich zugeht und Dich dabei liebevoll und lächelnd anschaut? Du bringst Dein Gebetswort ein und lässt diese Vision ganz behutsam los. Im Ernst - kein Schmäh!

Dieses Loslassen, um in der diffusen Offenheit ganz und gar für Gott da zu sein, ist das Herzstück des Zentrierenden Gebets. Dadurch verschiebt sich etwas in Deinem Inneren hin zu einem "nicht-dualen" Bewusstsein. Dein normales "Betriebssystem" - um es mit einem Computer zu vergleichen - ist eines, das über Differenzierung funktioniert. Du bist größer als Dein Bruder, fährst ein kleineres Auto, bist klüger, ärmer, . . . Dieses Betriebssystem arbeitet im Subjekt-Objekt-Modus. Das nicht-duale Betriebssystem funktioniert anders. Dabei belasse ich es. Es ist nützlicher, mehr darüber zu lesen, wenn Du schon viel Erfahrung mit dem Zentrierenden Gebet hast.

Wenn Du mit Eselsbrücken etwas anfangen kannst: Hier ist eine zum Umgang mit Gedanken: Widersetze Dich keinem Gedanken, ergreife keinen Gedanken, reagiere auf keinen Gedanken, kehre mit Deinem Gebetswort behutsam zurück.

Loslassen und Dich verströmen (Kenosis)

Spirituelle Praxis ist universal - überall auf der Welt in allen Religionen gibt es sie. Auch das Grundrezept ist im Prinzip überall das gleiche - das gilt auch für Zentrierendes Gebet.

Zentrierendes Gebet hat einen Kern, in dem es sich von anderen Meditationsformen unterscheidet. Es ist loslassen und Dich verströmen, von Dir geben. Wie kannst Du Dich verströmen? Da ist doch bald nichts mehr übrig als eine leere Hülle? In noch viel größerem Maß, als Du Dich verströmst, fließt (Gott) in Dein Innerstes hinein. Du bist dann wie eine große Brunnenschale, über deren Rand das Wasser strömt. Viele Beispiele dieses Sich-Verströmens gibt es im Leben Jesu. Sein ganzes Leben war ein solches Verströmen, bis zum Ende am Kreuz. Paulus bezeichnet dieses Tun in einem seiner Briefe mit dem griechischen Verb: "ekenosen". Es ist das Gegenteil des Wortes festklammern und heißt leer werden, sich hingeben, sich verströmen (auf Deutsch häufig mit "sich entäußern" übersetzt). Jesus praktizierte ein behutsames Loslassen. Die Evangelien erzählen davon, dass er uns zu dieser Reise einlädt und sie selbst beispielhaft lebt. Wenn Dir das einmal klar ist, merkst Du, dass das der rote Faden von allem ist, was er gelehrt hat. Nicht festhalten! Nicht anhäufen! Nicht aufplustern! Sorge Dich nicht! Hab keine Angst, dass Du nichts mehr hast, wenn Du Dich verströmst, Gott gibt Dir im Überfluss - sogar sein Reich (Lukas 12,32).

Diese zentrale Geste des Loslassens ist auch die zentrale Geste im zentrierenden Gebet, einen Gedanken um den anderen. Zentrierendes Gebet ist Kenosis in Meditationsform! Zentrierendes Gebet webt die ultimative Antwort Jesu in Dein Leben hinein: jeder Situation in Deinem Leben durch freies Geben Deiner selbst zu begegnen. Wenn Du damit Deinen Loslass-"Muskel" trainierst, ist das mehr als ein Bild. Jedesmal, wenn Du während des zentrierenden Gebets einen Gedanken loslässt, um ganz und gar für das Göttliche und sein Wirken da zu sein, bildet sich diese Geste auch körperlich ab. Etwas entspannt sich im Bereich Deines Solarplexus. Minimal, aber spürbar. Deine Nerven und Muskeln tun also im Kleinen das Gleiche wie Du im Größeren mit Deiner behutsamen Geste des Loslassens. Mit der Zeit wird die Kenosis, die Jesus vorgelebt hat, ein immer zentralerer Teil von dem, was Dich ausmacht.

Was habe ich vom Zentrierenden Gebet?

Darauf antwortet Thomas Keating trocken: "Die Früchte des zentrierenden Gebets findest Du in Deinem Alltag". Wenn Du in Deinem subjektiven Erleben innerhalb der Zeit, in der Du meditierst, nach Anzeichen suchst, dass Du "besser" wirst oder dass es "funktioniert", suchst Du am falschen Ort - denn das sind ja wieder Gedanken! Dein Körper hat keine Sinne, mit denen er wahrnehmen kann, was in diesen kurzen Intervallen zwischen Gedanken "passiert". Änderungen merkst Du nur indirekt und oft sind es die Menschen, die Dir nahe stehen, denen diese Änderungen zuerst auffallen: eine größere Gelassenheit, eine größere Weite, weniger Hektik, mehr Flexibilität, tiefere und bessere Beziehungen.

Zentrierendes Gebet hat kein Ziel und damit nichts, was Du erreichen musst. Alles, was es braucht, ist Deine Bereitschaft und Absicht, ganz und gar offen zu sein für das Göttliche und diese Absicht dadurch auszudrücken, dass Du behutsam loslässt, woran Du Dich momentan gerade klammerst. Diese unauffällige Frucht braucht lange zum Reifen. Das Verströmen dringt langsam in Dein Alltagsleben ein. Du wirst auch dort ganz und gar für das Göttliche da sein und gleichzeitig auch voll in der momentanen Alltagssituation, also nicht tagträumerisch durch die Welt gehen! Ein Ort entsteht in dir, in dem Du zur Ruhe kommst. Kein Ort, auf den Du Deine Aufmerksamkeit zu richten brauchst, sondern ein Ort, von dem aus Deine Aufmerksamkeit fließt. Du entdeckst, dass Du, das Göttliche und die Welt dort draußen nicht separate Teile und Bereiche sind, sondern dass alles nahtlos zusammenfließt in einer unaufhörlichen Dynamik von Liebe, die sich selbst verströmt und hingibt, die der Urgrund allen Seins ist.

Weiter!

Du bist am Ende dieser Einführung ins Zentrierende Gebet angelangt. Du hast alles, was Du brauchst. Du hast gelesen, wie verblüffend einfach Zentrierendes Gebet ist und wirst es selbst erfahren, wenn Du es ausprobierst. Was Du brauchst, ist ein Sehnen, ganz und gar für das Göttliche da zu sein. Ein Sehnen, das Du ganz konkret werden lässt, indem Du Dir 20 Minuten pro Tag Zeit dafür nimmst. Probiere aus, wie und wann Du in Deinem Tagesablauf 20 ungestörte Minuten finden kannst. Sei kreativ! Gerade am Anfang ist Regelmäßigkeit ganz, ganz wichtig. Besonders dann, wenn Du so viel um die Ohren hast, dass Du meinst, für das Meditieren keine Zeit zu haben, kommst Du in die Ruhe und ins Loslassen, womit die Alltagshektik kleiner wird. Nach einigen Monaten wächst ein Sehnen, aus dem heraus Du wie von selbst "centerst". Es ist schön, von Zeit zu Zeit gemeinsam mit anderen fuzum Zentrierenden Gebet zusammenzukommen, zu zweit, zu dritt oder noch mehr. Im deutschen Sprachraum gibt es noch sehr Wenige, die es praktizieren. Vielleicht gibt es jemanden in Deinem Umfeld, der oder die auch daran interessiert sein könnte und durch Dich darauf stoßen kann.